An seine körperlichen Grenzen ist der Thüringer Ausdauerathlet, seitdem er den Ultrabereich vor 15 Jahren für sich entdeckte, mehr als einmal gegangen. So „platt“ wie am späten Nachmittag des 16. Oktober war er aber wohl noch nie. Ausgepumpt von Wind, Kälte und einem Sauerstoffgehalt in der Luft, der etwa bei der Hälfte des im Flachen Üblichen liegt. In den Anden aber drohte phasenweise sogar sein eiserner Wille nachzugeben, der ihn durch schon so viele „verrückte“ Projekte getragen hat. „Schon das dauernde Geräusch des Winds zehrt an den Nerven, an der Substanz“, sagt Guido. „Wir waren auf alles vorbereitet, wir hatten alles besprochen. Ich wusste, dass ich gegen Wind und Kälte und natürlich gegen die dünne Luft kämpfen würde. Aber alle Vorbereitung ist nichts gegen den wirklichen Kampf.“ Je höher der Athlet auf dem Rad und das Begleitfahrzeug kamen, desto ungeschützter war er dem Wind ausgeliefert, der, wie bei der Erkundung, fast ununterbrochen wehte und unerfreulich häufig Geschwindigkeiten von 90 - 100 km/h erreichte. Windstärke 10. Schwerer Sturm. Wo der Athlet aber kurzzeitig den Windschatten des Begleitfahrzeugs suchte, war das ein Pyrrhussieg. „Man kann sich auch im Windschatten nicht lange aufhalten. Die Sonne ist ja in der Wüste genauso da, und ohne Wind steigt die gefühlte Temperatur rasant an, also fange ich an zu schwitzen, weil ich ja für 5 Grad eingepackt bin, nicht für 25,“ so Guido. Die niedrigste im Windschatten gemessene Temperatur war im Übrigen –6°C.
Die Strapazen waren vier Tage noch weit weg gewesen. Die unterstützende, beim Wirtschaftsministerium angesiedelte chilenische Tourismusgesellschaft hatte mit einigem Pomp eine Verabschiedung in den Rekordversuch organisiert (http://www.sernatur.cl/noticias/guido-kunze-el-deportista-que-busca-subir-al-ojos-del-salado-en-bicicleta) und ein ganzes Polizeikorps aufgeboten, das den Mountainbiker geschlagene 80 km lang per Motorradeskorte begleitete und die halbe Regionshauptstadt Copiapó für die Durchfahrt des Thüringers sperrte. Zum Radfahren war es da eigentlich zu heiß. Es handelte sich jedoch noch um „normales“ Radfahren, bis auf rd. 900 m Meereshöhe und knapp 150 km. Dort, in der Nähe der Ortschaft la Puerta, entschieden sich Athlet und Begleiter für die landschaftlich interessantere von zwei möglichen Routen, obwohl die rd. 10 km länger ist. Denn durch die Wüstenlandschaft zehrt an der Motivation, dass es nirgendwo optische Abwechslung gibt. Die Situation, dass man allenfalls auf das Vorderrad oder den Fahrradcomputer starren kann, setzt sich auf der kürzeren Route entlang des Salzsees Laguna Santa Rosa fort. Die landschaftlich reizvollere und für die Motivation bessere Strecke führt durch den Canyon des río Lama, was hingegen einen steilen Passanstieg auf rd. 4400 m erforderte, an dem sich hinter jeder Haarnadelkurve im Fels noch eine Haarnadel verbarg. Die erste Auseinandersetzung mit der Landschaft, die eher der Wille als die reine Physis entscheidet. Schließlich durchfuhr Guido den Canyon sogar nachts, weshalb die Rampen zwischen den Haarnadeln noch länger wurden und der erhoffte optische Motivationsschub ebenfalls ausblieb.
Weitere rund 80 km später, auf nun etwa 4200 m Meereshöhe war auf der nach Argentinien weiterführenden Staatsstraße der Abzweig zum Ojos del Salado erreicht, unweit des Basislagers während der Erkundung am zweiten Salzsee, der Laguna Verde. Wind, Kälte und ein wenig die dünner werdende Luft begannen sich stärker bemerkbar zu machen. Athlet, Unterstützungsteam und Foto- und Filmdokumentationsbegleiter waren wie bei der Erkundung auf sich allein gestellt in der Wüste, was durch das Outdoor-Equipement von Projektausrüster Primus wieder einfach zu meistern war. Guido hatte inzwischen etwa 27 Stunden reine Fahrzeit im Sattel zugebracht, und die dritte Nacht on Tour brach an. Alles weitere würde sich zudem immer näher an der „Todeszone“ mit immer niedrigerem Sauerstoffgehalt in der Luft abspielen. Es wurde deshalb entschieden, eine etwas längere Nachtruhe einzulegen, weil die nächste Nachtruhe irgendwo bei oder über 6000 m stattfinden würde.
Am Freitag morgen, wenig nach Sonnenaufgang setzte sich Guido wieder in Bewegung und immer stärker Wind und Wetter aus. Es sollte das letzte Teilstück werden. Wie auf der Erkundung hatten die Motorfahrzeuge wieder schwer mit den schlechter werdenden Verhältnissen zu kämpfen. Das Mountainbike schnurrte den zu Kies, Geröll, Sand und Blockwerk werdenden Weg aber noch problemlos ab. „Ghost hat alles richtig gemacht“, lobt Guido sein für das Projekt eigens entwickeltes Bike. „Rahmen, Anbauten, Technik, Laufräder – alles ohne Pannen oder Stolperer, alles wie gemacht, damit mir das Leben etwas leichter wird. Ich weiß nicht, ob ich ohne diese Unterstützung überhaupt so weit gekommen wäre.“ Dennoch entpuppte sich der Abschnitt zwischen 5200 m und 5800 m – dort wo das Akklimatisierungsbiwak gewesen war – als die erste ganz große Herausforderung. Zwei größere Flächen mit äußerst feinem, ascheartigem Sand mussten gequert werden. Die Autos mussten dort freigeschaufelt werden. Aus den Fat-Tyre-Reifen des Mountainbikes wurde die Luft bis auf 0,3 atü abgelassen, der Athlet wählte die niedrigsten Gänge, und dennoch gab der Untergrund nicht den erforderlich Grip. Guido legte die ersten Meter ungewollt zu Fuß zurück. In diesem Bereich ging er zu der Fahrtaktik über, die bei der Erkundung festgelegt worden war. „Ich habe reingetreten, bis ich blau oder schwarz war, dann, wenn ich noch geordnet absteigen konnte, Pause gemacht und dann wieder reingetreten. Dabei war ich selbst überrascht, wie schnell ich regeniere“, erklärt er.
Aber er geht auch hart mit „halbtouristischen“ Beschreibungen der Auffahrt ins Gericht. „Bis auf 5800, 5900 Meter kann man meistens noch in etwa normal fahren, aber auch da hat man schon eine Menge Steilstücke aus Geröll oder Blockwerk, die einem alles abverlangen. Und die werden mehr, es sind Stücke von 40, 50 Grad dabei. Bei dem losen Untergrund sind die kaum oder nicht mit dem Fahrrad zu fahren. Man bekommt einfach nicht genug Druck auf den Boden. Sogar bei den längsten Übersetzungen dreht das Rad durch. Es sah da oben nicht so aus, also ob es hinter meinem Endpunkt flacher wird. Wenn ich höre oder lese, man könne sogar auf den Gipfel fahren, dann ist das einfach nicht wahr.“ Er selbst habe viel öfter als gedacht ein paar Schritte zu Fuß gehen oder auch einmal das Rad ein Steilpassage hochtragen müssen, und zwar, wie er mit Nachdruck präzisiert, „nicht wegen der dünnen Luft, sondern wegen der Steilheit im Gelände mit losem Untergrund. Da wäre ich auch auf 500 m nicht sauber mit dem Rad hochgekommen.“
Am Nachmittag des 16.10., inzwischen auf rd. 6000 m Meereshöhe, wurde all das für alle zunehmend zur Plackerei. Vom Unterstützungsteam begleitete Jan Lösekrug als Verpfleger Guido bis ganz nach oben. Die hochalpin-erfahrenen Sichtzeit-TV-Leute Armin Buchroithner und Christoph Hörner hielten im Bild fest, dass von Radfahren immer weniger die Rede sein konnte, sondern eher von Radbewegen, sowohl stoßweise auf dem Pedal, bis der Athlet einmal mehr „blau“ war und eine kurze Pause brauchte, als auch neben dem Pedal, weil sich Schotter und Sand bei 50 Grad Gelände und Grip auf dem Hinterrad einfach nicht miteinander vertragen.
Inzwischen steuerte das Projekt auf ein großteils frisches Schneefeld von Niederschlag einen Tag zuvor bei 6300 - 6400 m Meereshöhe zu. Aller Wahrscheinlichkeit nach wäre spätestens dort garantiert Schluss gewesen, weil das Rad durch den Schnee auf Geröll und Blockwerk ohnehin nur noch hätte getragen werden können. Der Tag neigte sich dem Ende. Guido war körperlich völlig ausgelaugt, nicht zuletzt weil der Gewichtsverlust durch Akklimatisierung und Projekt höher gewesen war als erwartet. Er war zudem psychologisch etwas mitgenommen, weil der konstante Kampf mit dem Wind bis Sturm den Eindruck hinterließ, da sei ein Gegner, der jedenfalls ausdauernder ist. Alle befanden sich auf einer Höhe, wo auch Alltägliches zur Herausforderung werden kann. Und in dieser Situation musste entschieden werden, auf 6200 m ein Notbiwak aufzuschlagen – worauf niemand wirklich scharf war – oder ins höchste Biwak auf 5800 m abzusteigen und am Folgetag von hier weiterzumachen, vermutlich „nur“ weitere 100 Höhenmeter bis in den Schnee – was das Projekt insgesamt etwas pervertiert hätte.
In dieser Situation half der Blick auf die Garmin-Fahrradcomputer, die auch unter diesen Extrembedingungen gewohnt zuverlässig ihren Dienst verrichtet hatten. Um 18:02 Uhr Ortszeit am 17.10.2014 waren sich beide Garmin-Geräte einig, dass nach 37 Std. 11 min 12 sec reiner Fahrzeit und 342,77 km Strecke Guido Kunze mit einer Genauigkeit von ± 3 m eine Höhe von 6233 Meter erreicht hatte. Das Geodatensignal vom GPS-Satelliten legte sich zugleich auf 6232 Meter fest. Der Überprüfungsverfahren zur Anerkennung als Höhenweltrekord wird folgen.
„Es wäre vielleicht noch 100 oder 200 m weiter gegangen, also 20 oder 50 Höhenmeter oder so. Aber es reichte wirklich. Und die Marke von André Hauschke hatte ich passiert. Das wollte ich schaffen“, resümiert Guido. Natürlich habe am Ende er entschieden, „aber so richtig voll da war ich nicht mehr immer an dem Abend.“ Erst einmal wurde er von Armin Buchroithner und Christoph Hörner per Schlafsack und Bergsteigertechniken wieder auf Körpertemperatur gebracht, als er abgestiegen war. Auch am nächsten Tag, inzwischen zurück am Startpunkt Bahía Inglesa, war die Durchblutung von Fingern und Zehen noch nicht ganz wieder normalisiert. Es dürfte also die richtige Entscheidung gewesen sein, es nicht um jeden Preis weiterzutreiben.
Auch wenn er noch nicht ganz offizialisiert ist, dürfen wir aber dennoch gratulieren zum neuen Höhenweltrekord. Und vermelden gern, dass zu den ersten Gratulanten in Guido Kunzes Gästebuch fair derjenige gehörte, der 4½ Jahre lange mit 6085 m an selber Stelle diesen Rekord gehalten hatte: André Hauschke.
Gracias y enhorabuena.
(c) Text: Guido Kunze, Marco Rühl. (c) Fotos: Christian Habel.